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Geschichten aus Hamburgs Geschichte
Vor dem Anpfiff fehlte der Ball
Historische Fußballszene: Altona 93, im Halbfinale am späteren Meister VfB Leipzig gescheitert, Foto: (c) Archiv sta
Dem Prager Tageblatt war das Ereignis ganze 37 Zeilen wert. Und das Berliner Tageblatt widmete dem Endspiel zur ersten deutschen Fußballmeisterschaft 1903 unter der Überschrift "Der Sport zu Pfingsten" lediglich eine Meldung
Versteckt fand man diesen Artikel hinter längeren Berichten über die Pferderennen Carlshorster Internationale und Stuttgarter Schwabenpreis: "Durch einen schönen Sieg von 7 zu 2 Goals gegen den Deutschen Fußballclub Prag erkämpfte sich der V. F. B. Leipzig im Entscheidungsspiel in Hamburg den Titel Meisterschaftsclub von Deutschland."
Vorbereitungen für ein großes Finale
Am 31. Mai 1903, einem heiteren Pfingstsonntag, herrschte vor dem für 16 Uhr angesetzten Anpfiff hektische Betriebsamkeit auf dem kleinen Altonaer Exerzierplatz. Dort fanden seit den 1890er-Jahren auf zwölf Spielfeldern die meisten Partien des 1894 gegründeten Hamburg-Altonaer Fußball- Bunds statt. Schiedsrichter Franz Behr vom gastgebenden Verein Altona 93 überprüfte die Absperrtaue, markierte Strafraum und Spielfeldbegrenzungen mit Sägemehl und reichte einen Teller herum, auf dem das Eintrittsgeld der Zuschauer klimperte. Kassenhäuschen und Tribünen gab es nicht. Die Spieler kleideten sich in der benachbarten "Erfrischungshalle" um. Skurrile Szenen, die man eher bei einem Match zweier Dorfmannschaften erwarten würde, und nicht in den Stunden vor einem nationalen Meisterschaftsfinale.
Schon immer wichtig: Verbandspolitik
Dass der Kontrahent der Leipziger Spitzenmannschaft aus Prag kam, das nicht zum Deutschen Reich gehörte, hatte einen sportpolitischen Hintergrund: Um möglichst viele Mitglieder zu gewinnen, lockte der DFB auch deutsche Klubs aus Böhmen unter sein Dach - darunter den 1886 aus dem Deutschen Eis- und Ruder-Club Regatta hervorgegangenen DFC. Der Klub mit seinen Reihen hatte sich als Meister des "Verbandes der Prager deutschen Fußballvereine" für die Endrunde qualifiziert und war wegen eines gefälschten Telegramms, das zur Disqualifikation des favorisierten Karlsruher FV führte, kampflos ins Finale vorgedrungen.
Franz Behr (links) war Spieler, Schiedsrichter, Vereinsvorsitzender und Verbandsfunktionär, Foto: (c) Archiv stahlpress
Der VfB Leipzig musste sich gegen Viktoria Magdeburg (8:1), Britannia Berlin (3:1) und Altona 93 (6:3) für das Endspiel qualifizieren. Nur sechs der 28 dem DFB angeschlossenen Fußballverbände hatten ihren regionalen Champion gemeldet. Die hohen Kosten für Anreise, Übernachtung und Organisation überstiegen den schmalen Etat der meisten Verbände.
Ernst Eikhof erinnert sich
"Der Platz war durch besenstilartige Hölzer, die mit Bindfäden verbunden waren, abgetrennt. Es mögen wohl etwa 800 Zuschauer anwesend gewesen sein", ist in den Erinnerungen des späteren Hamburger Nationalspielers Ernst Eikhof nachzulesen, der als Elfjähriger Zeuge des Spiels wurde. Die Angaben über die Zuschauerzahl driften in den Quellen weit auseinander. Während der kicker Almanach 2.000 Schaulustige nennt, sprechen andere Quellen von 500, 1.000 oder 1.500 Besuchern.
Vor dem Anpfiff gab es eine kleine Panne: "Das Endspiel konnte erst mit einer etwa halbstündigen Verspätung beginnen, da die derzeit in Hamburg bestehende Firma Steinberg ihrer übernommenen Verpflichtung, rechtzeitig einen Ball zum Spiel zu senden, nicht nachgekommen war. Es musste daher vom Altonaer FC ein Ball geliehen werden", gab der Unparteiische Behr, der zuvor im Halbfinale als Spieler (!) mit seinem Klub Altona 93 an den Leipzigern gescheitert war, später zu Protokoll.
Hoher Sieg nach Rückstand
Der Anstoß erfolgte schließlich um 16:45 Uhr. Die Männer aus der Moldau- Stadt begannen mit "scharfem Tempo". Der erste Treffer ließ nicht lange auf sich warten: "Von einem Gedränge vor dem Tor aus konnte Prag um 17:07 Uhr zum ersten Mal einsenden, und lauter Jubel seiner wenigen Anhänger belohnte diesen Erfolg", vermerkt die zum 25-jährigen Bestehen des DFB erschienene Chronik. Und weiter: "Schließlich gelingt es dem Leipziger Centerhalf, durch einen scharfen Schuss das ausgleichende Goal zu erzielen." Nach dem Wiederanpfiff schwanden die Kräfte der - so wurde kolportiert - von einem nächtlichen Reeperbahn-Bummel geschwächten Prager. Der VfB erzielte zwei weitere Treffer, doch Prag kam nach einem Leipziger "Fehlstoß" noch einmal auf 2:3 heran. Nicht mehr als ein Strohfeuer: "In der Zeit von vier Minuten können Stany und Riso drei Goals erzielen, und selbst die unfaire Spielweise des Herrn Robitschek vom DFC konnte die Durchbrüche der Leipziger nicht verhindern." Kurz vor dem Ende setzte Leipzigs Riso den Schlusspunkt zum 7:2-Triumph der Messestädter.
Gedenktafel im Gewerbegebiet
Am historischen Endspielort befindet sich heute ein Gewerbegebiet. Lange erinnerte nichts an das frühere Mekka des hiesigen Fußballs. Seit 2011 würdigt ein Gedenkstein auf einem Firmengelände Ecke Rondenbarg/ Marlowring das historische Ereignis. Der Sammelwut Ernst Eikhofs ist der Erhalt eines einzigartigen kulturgeschichtlichen Dokuments zu verdanken: des Billetts mit der Nummer 534. "Die einzige erhaltene Eintrittskarte zum Endspiel um die erste deutsche Meisterschaft besitze ich", erzählte Eikhof kurz vor seinem Tod im Jahr 1978 stolz. "Der DFB hätte diese Karte gern gehabt - aber nicht für noch so vieles Geld! Die erhält meine Victoria."
Die einzige erhaltene Eintrittskarte vom Endspiel 1903, Foto: (c) Archiv stahlpress
Eikhof hielt Wort: Jahrzehnte lagerte das kleine Wertpapier wohlbehütet im Archiv des Traditionsvereins. Heute ist es als Dauerleihgabe im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund zu bewundern. Und das wird, nun ja, vom DFB betrieben …
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Autor: Volker Stahl
HBZ · 07/2024
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