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Egon Schiele (1890-1918, Österreich)

Kleiner Baum im Spätherbst, 1911

Egon Schiele: Kleiner Baum im Spätherbst, 1911. Öl auf Holz, 42 x 33,5 cm, Foto: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumber
Egon Schiele: Kleiner Baum im Spätherbst, 1911. Öl auf Holz, 42 x 33,5 cm, Foto: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumber
Bildbetrachtung: Vor einem graugrünen, drei Viertel der Bildfläche einnehmenden Hintergrund, der von wolkigen, konturlosen Formen belebt wird, scheint ein baumartiges Wesen zu tanzen.

Es streckt seine Astarme in krakelig gebrochenen, braun-orangefarbenen Linien links und rechts von der kropfartigen Verdickung eines "Kopfes" in die Höhe, wo weitere dünne Verzweigungen vom oberen Bildrand überschnitten werden. Die Bewegung nach oben scheint sich dadurch in unübersichtliche Höhen fortzusetzen.

Zeigt die Gestalt in diesem Bereich eine mit körperlicher Schwäche gepaarte Spannung (dürre, kahle Astarme, aber zielgerichtet), so verstärkt sich ein Eindruck von Energie im mittleren Bildbereich: Hier schwingt der Baum ein kräftigeres Astbein, über ein "Gelenk" lang ausgestreckt zum rechten Bildrand, an dessen Mitte er sich mit einer Fuß-Astgabel zart anlehnt.

Scheint in der Bildmitte der energetische Mittelpunkt zu liegen, geformt in einem kräftig braunen, scharfwinkligen "U", aus dessen Balken sich Hals, Körper und Schenkel des geschwungenen Beines entwickeln, findet die mit angestrengter Spannung verbundene Gebrechlichkeit der oberen Astarme im unteren Bereich ihr Pendant: Die Verlängerung des kurzen U-Balkens ist angebrochen und geht in ein weißliches, rindenloses "Bein" über, dessen gelenkloser Rundbogen immerhin elastisch die Balance der ganzen Figur hält. Er endet unten in einem "Fuß", der sich zweifelhaft fest in einem mit bräunlichem Gras bewachsenen Hügel verklammert. Dessen Horizont verläuft im unteren Drittel des Bildes in einem Rundbogen von einer Bildecke zur anderen, einem Erdkreissegment ähnlich.

Hier ist Vergänglichkeit gemalt, aber nicht ohne Zustimmung, ja Fröhlichkeit. Der Baum könnte "abheben", nach oben, ins Ungewisse, aber Helle. "Überall erinnert man sich an ähnliche Bewegungen im menschlichen Körper, an ähnliche Regungen von Freuden und Leiden in den Pflanzen …", sagte Schiele, der nicht "nach der Natur", sondern "nach Erinnerungen" malen wollte. Unter Tausenden sei nur einer, der in Liebe zu allen Lebewesen den "Organismus" von allen Dingen und im "Antlitz" der Pflanzen "den lebendigen Hauch ihres Geistes" sehe (Schiele, Brief von 1913). Lebhaft erinnert Schieles Auffassung an einige Partien aus dem Buch Die Intelligenz der Blumen (1902) des Belgiers Maurice Maeterlinck, der in den Pflanzen mit ihrem beispielhaften Streben nach Licht Symbole für die menschliche Aufgabe sah, sich aus der Verklammerung mit dem Irdischen zu lösen. Dieser geistigen Richtung um 1900 und dem etwas früher entwickelten Jugendstil, in dessen zahlreichen Ausformungen Pflanzen eine große Rolle spielten, sowohl als mondäner Dekor, aber auch als Zeichen einer Mahnung angesichts der zusehends technisierten Welt, kann auch Egon Schiele zugeordnet werden.

Schon früh vaterlos, drittes von sechs Kindern, von denen er und zwei Schwestern am Leben blieben, fühlte er den "Tod im Leben und Leben im Tod", was wie eine Prophezeiung wirkt, denn er starb schon mit 28 Jahren 1918 an Grippe, drei Tage später als seine schwangere Ehefrau. Zu dem Zeitpunkt war Schiele schon ein über die Grenzen Österreichs hinaus anerkannter Künstler und als Nachfolger seines Lehrers Gustav Klimt an der Wiener Akademie vorgesehen. Anders als Klimt, der mit der Einbettung seiner schönen, in Gefühl versunkenen Figuren in kostbare goldene Flächen eine harmonische Welt erfindet, zeigen Schieles Figuren in ihren Hautverfärbungen und ihren spitzigen Umrissen, gesetzt in raffinierter Flächenbewältigung, Verletzung und Gegenaggression.

Als skandalös wurden zu Beginn seiner Laufbahn seine sich entblößenden und entblößten Frauen empfunden. Sie brachten ihm Anklagen wegen unsittlichen Lebensstils und Verführung ein. Allerdings kann die Darstellung spezifisch weiblicher Partien auf Schieles Bildern oft mit Blütenstempeln verglichen werden, entsprechend seiner Auffassung von der Einheit des Menschen mit allen Bereichen der Natur.

Egon Schiele "Kleiner Baum im Spätherbst"

Ausstellung "Im Raum die Zeit lesen. Moderne im mumok 1919 bis 1955"

16. November 2019 bis 13. April 2020

Museum moderner Kunst
Stiftung Ludwig Wien
Museumsplatz 1, 1070 Wien, Österreich


Autor: VHSt
Fotos: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumberger

HBZ · 11/2019
 
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