
Archive - das Gedächtnis Hamburgs
Schutenschubser, Flakbunker und Voscheraus Nachlass
Juwelenpalast von Hugo Haase auf dem Hamburger Dom (1902), Foto: (c) stahlpress Medienbüro
Wer sich für Hamburgs Historie interessiert, kann auf nahezu unerschöpfliches Material zurückgreifen, das in städtischen und privaten Archiven der Hansestadt schlummert und meist öffentlich zugänglich ist.
Wir stellen einige Einrichtungen vor, die Kulturgut aus der Vergangenheit sammeln, katalogisieren und es wissenschaftlich oder privat Forschenden zugänglich machen.
"Drei, drei, drei - Issos Keilerei" - die Zeiten, in denen Schüler im Fach Geschichte vor allem Zahlen, Orte und Kriegsdaten paukten, sind lange vorbei. Zu diesen Zeiten war Geschichte noch "Geschichte von oben", während das Leben der "einfachen Menschen" in der Wissenschaft meist keine oder kaum eine Rolle spielte. Das änderte sich erst in den bewegten 1960er-Jahren. In den frühen 1980er-Jahren schwappte dann von Schweden aus das geflügelte Wort "Grabe, wo du stehst!" über die Ostsee und hatte die Gründung zahlreicher Geschichtswerkstätten zur Folge - einige davon haben wir in früheren Ausgaben der HBZ vorgestellt. Für sie und ihre meist ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war die Erforschung des Lebens der Ahnen von "Otto Normalverbraucher", von Malochern und Randgruppen interessant - in Hamburg zum Beispiel das der "Schutenschubser" genannten Ewerführer aus dem Hafen oder das verarmter Witwen, die im Altonaer Nyegaard- Stift ihren Lebensabend in bescheidenen Verhältnissen fristeten. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Erforschung des Nationalsozialismus vor Ort.
St. Pauli-Archiv: Schwerpunkt auf Sozialgeschichte
In Hamburg hat sich bis heute eine Landschaft von Geschichtswerkstätten erhalten, die es woanders so nicht gibt. Das ist eine Besonderheit, in Berlin gibt es beispielsweise nur eine. Sehr aktiv und gut besucht ist das vor 38 Jahren von lokal verwurzelten Gewerbetreibenden, kulturell Interessierten, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Stadtteilaktivisten gegründete St. Pauli-Archiv. Es firmiert heute als Verein mit 60 Mitgliedern und wird von der Kulturbehörde mit jährlich 25.000 Euro gefördert. "Viele der damals 70 Gründungsmitglieder entstammten einem akademischen Prekariat, das keinen Job bekommen hatte und sich einen eigenen schaffen musste", erzählt Martin Spruijt (61). Der in Bergedorf aufgewachsene Historiker und Betriebswirt lebt seit 1984 auf St. Pauli und zeigte 1993 eine erste eigene Ausstellung über Kriegszerstörungen und Stadtentwicklungsprozesse im Stadtteil.
Spruijt, der heute in der Energiewirtschaft beschäftigt ist, gehört zu etwa einem Dutzend Ehrenamtlichen, die im Archiv mitarbeiten. Über die einzige feste Stelle in der Einrichtung verfügt die 1961 geborene Gunhild Ohl-Hinz, die 15 Stunden wöchentlich im Archiv tätig ist. Die Historikerin, die Mittlere und Neue Geschichte in Hamburg studiert und ihre Magisterarbeit über Handwerker auf St. Pauli im 19. Jahrhundert geschrieben hat, konstatiert trocken: "Ich bin hier hängen geblieben."
Der Nachlass der Hamburger Familie Sillem, Foto: (c) stahlpress Medienbüro
Den Vereinsmitgliedern ist es wichtig, auf regelmäßig stattfindenden Rundgängen durchs Quartier zu vermitteln, dass St. Pauli keine reine Amüsier- und Konsummeile ist, sondern auch Wohn- und Arbeitsort. "Die meisten Besucher interessieren sich nur für den Rummel und wissen nicht, dass hier auch Menschen leben", stellt Gunhild Ohl-Hinz fest. Die trotz fortschreitender Aufwertung ("Gentrifizierung") und Kommerzialisierung noch nicht völlig aus dem Stadtteil verschwundene Aufmüpfigkeit spiegelt sich auch in den Archivbeständen wider: "Besonders gut aufgestellt sind wir bei den sozialen Auseinandersetzungen im Viertel: Hafenstraße, Rote Flora, Hafenkrankenhaus, Esso-Häuser, Park Fiction", sagt Ohl-Hinz. Martin Spruijt ergänzt: "Wir verstehen uns nicht nur als Stadtteil-Initiative, sondern auch als Teil der Recht-auf-Stadt- Bewegung".
Besuchern steht eine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung. Eine Presseausschnittsammlung, Pläne, Postkarten, Fotos und Tondokumente gehören ebenfalls zur Sammlung, dazu in geringer Auflage erschienene Broschüren, die sogenannte "graue Literatur". Ziel sei es, alle "kulturellen Ausprägungen St. Paulis einzufangen", betont die studierte Historikerin. Das Angebot ist niedrigschwellig, alle Interessierten sind willkommen. Kürzlich hat das Archiv eine detailreiche Publikation zur Geschichte des ehemaligen Flakbunkers auf dem Heiligengeistfeld herausgegeben, der heute als Grüner Bunker Schwärme von Touristen anlockt. Aktuell ist auch noch die Ausstellung zur 200-jährigen Geschichte der Wallanlagen in Planten un Blomen zu sehen - Beispiele dafür, dass St. Pauli jenseits des "Kiezes" spannende Geschichte(n) zu bieten hat. Für die kommenden Jahre ist eine umfassende Beschäftigung mit der Geschichte der Herbertstraße geplant.
1,5 Millionen Postkarten in Altona
Einen großen Schatz für Hamburger mit besonderem Interesse für die 1937/38 infolge des "Großhamburg-Gesetzes" eingemeindete Stadt Altona beherbergt die Archivchefin des Altonaer Museums, Birgit Staack: 1,5 Millionen Postkarten mit Motiven aus Altona und Hamburg. Davon sind allerdings nur rund zehn Prozent digitalisiert, bedauert Staack. Die Postkarten seien eine wahre Fundgrube, meint Staack, denn nicht nur die Kartenmotive seien von Interesse, sondern auch die Kurztexte. "Da spiegeln sich viele Alltagssorgen wider, die die Menschen damals hatten." Die meisten Motive zeugten aber eher vom touristischen Interesse der Absender, "die sind sehr konventionell".
Aus den Sammlungen, die dem Museum angeboten werden, lassen sich manchmal interessante Dinge wie die absolvierten Reiserouten der Absender rekonstruieren - zum Beispiel aus einem aus dem Alten Land stammenden Konvolut. "An den Reisezielen kann man erkennen, wie wohlhabend diese Familie damals gewesen sein muss", sagt Staack. Bei der Entzifferung der alten Schriften helfen viele Ehrenamtliche, die noch Sütterlin beherrschen.
Stele vor dem Staatsarchiv (l.), Staatsarchiv-Leiterin Dr. Christine Axer (r.), Fotos: (c) stahlpress Medienbüro
Zur Sammlung gehören auch Schriften, historische Fotos und Grafiken, Künstlergrafiken sowie Landkarten und Stadtpläne aus ganz Norddeutschland. Insgesamt befinden sich rund 600.000 Objekte im Depot. Alles wird erschlossen, gescannt und anschließend in eine Datenbank hochgeladen. Wer kommt, um das Material zu sichten? "Zum Beispiel Familien, die auf Spurensuche ihrer Vorfahren sind, Doktoranden, Journalisten, Studenten, Wissenschaftler, Behördenmitarbeiter", berichtet die Archivleiterin, die einst als studentische Hilfskraft im Museum angeheuert hatte.
Mobile Geschichtswerkstatt
Auf ungewöhnliche Weise transportiert ein Pensionär historisches Wissen in die Gegenwart. Als Ehrenamtler tourt der ehemalige Lehrer und begeisterte Radfahrer Wolfgang Wallach mit seiner "Mobilen Geschichtswerkstatt" durch den Stadtteil Eidelstedt. Der 74-Jährige schied 2021 nach Meinungsverschiedenheiten aus dem Heimatmuseum Eidelstedt aus. "So beschloss ich mit meinem digitalen Archiv, zu dem eine Postkartensammlung gehört, und meinen vielfältigen Kontakten im Stadtteil meine Arbeit als Mobile Geschichtswerkstatt fortzusetzen", sagt Wallach. Seitdem bietet er Rundgänge durchs Viertel an und bestückt die Website www.eidelstedt. info mit Beiträgen zur Geschichte des Stadtteils, in dem er seit 1990 lebt. Zudem hat der kritische Chronist an einer Wanderausstellung der Geschichtswerkstätten zu den Themen Zwangsarbeit und Migration mitgearbeitet, Schulprojekte betreut und zeichnet für die Neuauflage der Broschüre "Eidelstedt unterm Hakenkreuz" verantwortlich.
Historische Schatzkammer am Holstenwall
Das seit Anfang 2024 wegen Modernisierung vorübergehend geschlossene Museum für Hamburgische Geschichte (MHG) hat hingegen die ganze Stadt im Blick. Das 1922 am Holstenwall eröffnete Haus verfügt nicht nur über die größte stadtgeschichtliche Schausammlung Deutschlands, sondern auch über eine öffentlich zugängliche Bibliothek. Auch die Nachlässe des Schriftstellers Hans Leip, der Varieté-Stars Gebrüder Wolf und der Schauspielerin Heidi Kabel lagern dort; zudem befinden sich Handschriften von Heinrich Heine, Schiller, Lessing und Alfred Lichtwark in den Beständen. Wer zu Hamburger Vereinen forsche, werde im MHG auch fündig, sagt Dr. Olaf Matthes, Leiter der Sammlung Fotografie und Archiv. Allein die Foto-Datenbank umfasst rund 100.000 Objekte, darunter viele Porträts. "Das ist aber nur ein kleiner Teil des vorhandenen Materials", so Matthes. Die Datenerfassung sei ein großes Problem, sagt der Historiker: "In der Commerzbibliothek ist nur ein Bruchteil des vorhandenen Materials gescannt." Auch in seinem Museum befänden sich viele unbearbeitete 60 bis 70 Jahre alte "Altlasten". Sogar das "Elbe-Archiv" mit 7.000 Fotos des von beiden Seiten fotografierten Flusses sei nicht greifbar.
Gedächtnis der Stadt
Das archivalische Herz der Freien und Hansestadt Hamburg schlägt seit 1997 in Wandsbek. Dessen öffentliche Aufgabe regelt ein Gesetz: "Das seit 1710 bestehende Staatsarchiv Hamburg ist gemäß Hamburgischem Archivgesetz (HmbArchG) § 1 Absatz 1 zuständig für die Unterlagen der Verfassungsorgane, Gerichte, Behörden und sonstigen Stellen der Freien und Hansestadt Hamburg und der ihrer Aufsicht unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts." Im Stadtstaat Hamburg übernimmt das Staatsarchiv Hamburg zudem die Aufgaben eines Stadtarchivs.
Seit dem 1. August hat das Gedächtnis der Stadt eine neue Leiterin: Dr. Christine Axer, zuletzt stellvertretende Chefin sowie "Abteilungsleiterin für zentrale archivische Aufgaben und Schutz des beweglichen kulturellen Erbes". Besonderen Wert legt die Historikerin auf die Forcierung der Digitalisierung, die sie als eine der "großen Zukunftsaufgaben" bezeichnet: "Wir leben in einer digitalen Welt. Für Archive bedeutet dies, dass sie auch die heute entstehenden digitalen Unterlagen bewerten und jene archivieren, die archivwürdig und somit dauerhaft zu erhalten sind." Die digitale Archivierung sei besonders herausfordernd, weil die Lebensdauer digitaler Informationen verglichen mit der von Informationen auf Papier deutlich geringer sei.
Voscheraus Nachlass
In den kommenden Jahren wolle sich das Staatsarchiv zudem verstärkt um das Segment "Vereine, darunter auch Sportvereine" kümmern, sagt Axer. Weil die Einrichtung auch Archivgut privater Herkunft übernimmt, wurde 2024 ein eigenes Referat gebildet. "Diesbezüglich wollen wir unser Profil schärfen." Bereits heute verfügt die Einrichtung über eine ältere Plakatsammlung, vor allem mit politischen Motiven. "Auch Politiker-Nachlässe sind im Staatsarchiv überliefert worden, so der des früheren Ersten Bürgermeisters Henning Voscherau", nennt Axer einen weiteren Schwerpunkt der Sammlung, zu der auch wichtige Familienarchive wie die der Familien Sieveking und Hertz gehören. Neue Archivalien kämen kontinuierlich dazu, denn, so Axer: "Wir sind ein lebendiges und nicht ein rein historisches Archiv."
Ein heikles Thema ist die Vernichtung von Akten, wie 2018 geschehen, als ärztliche Todesbescheinigungen von 1876 bis 1953 geschreddert wurden. "Das ist in der Vergangenheit nicht oft passiert, die Hauslinie lautet seitdem: Was als archivwürdig bewertet wurde, ins Haus kommt und ins Magazin geht, das bleibt für alle Zeiten", betont Christine Axer. Es habe diesbezüglich ein Umdenken stattgefunden, denn: "Wir brauchen die Verlässlichkeit gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern und den Gebern." Schwierig sei auch die Auswahl des Materials, sagt Axer und erläutert das Problem am Beispiel der Gerichtsakten: "Wenn wir nur Mordakten archivieren würden, dann könnte man in fünfzig Jahren denken, dass sich halb Hamburg damals umgebracht hat."
Nicht gefeit sind die Hüter der Vergangenheit auch vor "Moden" beim Sichern von Archivgut. So kann die heutige Chefin des Staatsarchivs auf eigene Erfahrungen verweisen: "Mein erstes Projekt im Beruf beschäftigte sich mit Heimkindern. Noch in den 1970er- und 1980er-Jahren hat sich kaum jemand für dieses Thema interessiert, deshalb sind auch kaum Akten vorhanden." Deshalb müssten Archive zeitunabhängig bewerten, so Axer, Ziele bei der Auswahl des vorhandenen und angebotenen Materials formulieren und "Entscheidungen transparent machen".
Ziel: Nutzung des Materials
Wichtig ist Christine Axer, dass die Archivalien nicht verstauben, sondern mit ihnen gearbeitet wird. "Der Erhalt des beweglichen kulturellen Erbes ist kein Selbstzweck, sondern hat immer auch die Nutzung des Archivguts zum Ziel. Ohne diese würde das Archiv seine Funktion als Gedächtnis Hamburgs nicht erfüllen können. Hier ist es mir ein besonderes Anliegen, das Staatsarchiv wieder stärker in das Bewusstsein zu holen." Archive würden noch zu oft als exklusive Orte wahrgenommen, die nicht allen offen stünden, bedauert Axer.
Aus dem Fenstern ihres Büros im vierten Stock des Gebäudes mit der blauen Fassade, die laut dem Architekten Jan Störmer "eingefrorenes Wissen" symbolisieren soll, überblickt die Herrin über 35.000 laufende und in mehr als 2.800 Bestände gegliederte Regalmeter weite Teile Wandsbeks. Beim Rundgang durch den fensterlosen, ausgeklügelt klimatisierten Magazinquader, der vom Verwaltungsgebäude durch einen Gang zu erreichen ist, erzählt Axer, dass vor allem die Akten zur Wiedergutmachung und diejenigen zur Entnazifizierung oft genutzt würden. Auch hier gilt also: Der Weg in die Archive der Stadt lohnt sich!
Klick in Hamburgs Geschichte
Ob Texte, Fotos, Filme oder Töne - alles lässt sich recherchieren: in Privatsammlungen wie dem "Archiv aktiv", im "Archiv der Sozialen Bewegungen" oder in der "Virtuellen Luruper Geschichtswerkstatt". Über große Bestände zur Regionalgeschichte verfügen neben dem "Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg" die Archive der Museen, Bürgervereine, Universitäten, Behörden, Stadtteile, Firmen, Schulen und Kultureinrichtungen. Auch die Archive der Umlandgemeinden wie Schenefeld, Glinde oder Ahrensburg sowie einige Privatsammlungen sind auf
www.hamburgwissen-digital.de verzeichnet. Durch einen Klick auf die jeweilige Einrichtung erhalten Interessierte die wichtigen Informationen: Kontaktdaten, Öffnungszeiten, Kosten, Bestände.
Bildergalerie
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Autor: Volker Stahl
Fotos: (c) stahlpress Medienbüro, (c) Altonaer Museum
HBZ · 10/2025
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