Titelfoto: © Hamburger Staatsarchiv (c) stahlpress Medienbüro
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Geschichten aus Hamburgs Geschichte
Proletenbagger. Beamtenbagger. Menschenschaufler.
Der Paternoster von 1955 in der Behörde für Stadtentwicklung an der Stadthausbrücke, (c) stahlpress Medienbü
Der Paternoster-Aufzug "befördert" freisinnige Hanseaten seit 140 Jahren.
Er ist gelebte Geschichte. Eigentlich sollte es ihn längst nicht mehr geben: Zum 1. Januar 1974 wurde der Neubau verboten und den verbliebenen 400 Exemplaren eine Gnadenfrist bis 1994 zugestanden. Nachdem allerdings auch die rund 110 Anlagen in der ehemaligen DDR energische Fürsprecher fanden, wurde die Frist bis 2004 verlängert. Ganz verschwunden ist er dank Denkmalschutz jedoch bis heute nicht. Je nach Standort wurde er "Proletenbagger" oder "Beamtenbagger" genannt oder neutraler als "Menschenschaufler" bezeichnet. Amtlich heißt er "Personen-Umlaufaufzug". Eingebürgert hat sich der Spitzname, der an die Rosenkranz-Kette erinnert, deren Perlen die katholischen Betenden durch die Finger gleiten lassen, wie die Kabinen durch die Stockwerke kreisen: Paternoster ("Vater unser").
Ein Import aus England
Räder und Ketten befördern die Fahrkörbe des Paternosters nach einem aus dem Bergbau stammenden Prinzip in einem Tempo von höchstens 0,45 Metern pro Sekunde herauf und herunter. Erfunden 1876 in London, verbreitete sich der "continuous elevator" via Hamburg auf dem europäischen Festland. Erstmals installiert wurde er im 1885/86 erbauten Kontorhaus "Dovenhof " an der Brandstwiete, das 1967 dem Verlagshaus des Spiegels Platz machte.
Der Paternoster im Bezirksamt Eimsbüttel dreht sich seit 1953 und wurde 2002 renoviert (r.), (c) stahlpress Medienbür
Nach der Erteilung eines preußischen Patents 1896 kam das vertikale Karussell auch in anderen deutschen Großstädten zum Einsatz. Aber Hamburg blieb die Hochburg: 1936 rotierten hier mehr als die Hälfte aller "Stetigförderer" in Deutschland, nämlich 344. Ein Ingenieur deutete 1907 an, warum der Paternoster ausgerechnet an der Elbe so beliebt war: Die Fahrt in offenen Kabinen "erregt in einem Lande wie Deutschland, wo man gewohnt ist, in allem und jedem die Organe der Aufsichtsbehörden für die persönliche Sicherheit sorgen zu lassen, Verwunderung". Dagegen entsprach die Fahrt, bei der die Passagiere über Ein- und Ausstieg selbst entscheiden, ohne Sicherheitsgitter oder den bis in die 1950er-Jahre nötigen Fahrstuhlführer der vergleichsweise freisinnigen hanseatischen Haltung.
Unsachgemäße Benutzung
Doch 1973 befand der TÜV, dass mündigen Bürgern die Benutzung nicht mehr zuzumuten sei. Die Abschaffung des Paternosters wurde mit Statistiken begründet, wonach mit drei bis zehn Unfällen jährlich die Quote 30-mal höher ist als bei anderen Aufzugsarten. Die Technik jedoch ist perfekt, das Steckenbleiben oder ein Absturz sind ausgeschlossen. Gefährlich ist allein die "unsachgemäße Benutzung".
Ein Schild in der Kabine belehrte: "Wer das rechtzeitige Aussteigen versäumt, kann ohne Gefahr über den Dachboden oder durch den Keller fahren und die gewünschte Stelle wieder abwarten." Trotzdem, stellte die Baupolizei 1901 fest, würden Personen "aus Übermut oder Unverstand" versuchen, "den Fahrkorb auf dem Dachboden zu verlassen". Von seinem "Angstfrühstück" spricht 1955 ein Rundfunkredakteur in Heinrich Bölls Kurzgeschichte Dr. Murkes gesammeltes Schweigen: Allmorgendlich fährt er ganz oben herum und starrt "voller Angst auf diese einzige unverputzte Stelle des Funkhauses".
Ein Video weist im Bezirksamt Eimsbüttel in die Benutzung des Paternosters ein
Die Furcht überwältigte am 7. September 1929 einen Holländer in Hamburg. Als die Decke näherkam, sprang er ab und blieb zwischen Kabine und Verschalung hängen, bis die Feuerwehr ihn heraussägte. Im April 1931 urteilte das Oberlandesgericht: Paternoster seien "an sich ungefährlich". Wer wie der Holländer "in blinder Angst herausspringt, beweist nicht einen Mangel an Geistesgegenwart, sondern einen Mangel an der ruhigen Überlegung, ohne die ein geordneter Verkehr überhaupt nicht denkbar ist".
Zu einer Bürgerschaftsdebatte im Dezember 1909 legte der Senat Zahlen vor: 1904 waren 20 Millionen Menschen in Paternostern gefahren; die "Vermehrung der Fahrstühle" habe die Beförderungsquote auf geschätzte 89 Millionen erhöht. Von 1902 bis 1908 ereigneten sich 89 Unfälle, von denen zehn tödlich ausgingen: "Bei keiner anderen Verkehrseinrichtung dürfte sich ein so günstiges Verhältnis finden." Statistisch "günstig", dennoch im Einzelfall ein "grausames Fahrstuhlunglück". Wie am 11. November 1927, als ein 54-Jähriger starb, weil er "mit dem Kopf zwischen dem Zahnrad und der Kette des Getriebes eingeklemmt" wurde. Als Hauptrisiko erkannte eine Zeitung 1913 das "eigene Verschulden unvernünftiger junger Leute", von denen "die Aufzüge zu Spielereien und Turnübungen benutzt" würden.
Die letzten ihrer Art
Im Juli 2015 scheiterte ein Vorstoß von SPD-Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, nur noch "eingewiesenen" Personen die Nutzung zu gestatten und eine Art "Paternoster- Führerschein" einzuführen. Zwei Monate später bewies der FDP-Politiker Burkhardt Müller-Sönksen Unvernunft als hauptsächliche Unfallursache: Er wollte sein E-Bike in einem der beiden Paternoster im Bezirksamt Eimsbüttel mitnehmen, wo es sich verkeilte.
Bundesweit sind noch 175 Paternoster in Betrieb, davon 27 in Hamburg. Die meisten können nur von denen benutzt werden, die in den betreffenden Behörden und Betrieben arbeiten. 2018 wurde beim Umbau des Flüggerhauses am Rödingsmarkt ein zugemauerter Paternoster entdeckt, dessen Baujahr 1908 ihn mutmaßlich zum ältesten erhaltenen der Welt macht. Ob er je wieder fährt, steht dahin.
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Autor: Volker Stahl
HBZ · 07/2025
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