Titelfoto: © Hamburger Staatsarchiv (c) stahlpress Medienbüro
Hamburgische Zeitschrift für den öffentlichen Dienst
Profitieren Sie von der Mitgliedschaft im VHSt.
Einfach ausdrucken und ausgefüllt an uns senden.

Geschichten aus Hamburgs Geschichte
Die Hamburger 'Sülze Unruhen' im Juni 1919
Ende Juni 1919 war der Rathausmarkt mit Stacheldraht abgesperrt, (c) stahlpress Medienbüro
Nach 111 Stufen auf der engen Wendeltreppe im Turm der Hauptkirche St. Petri an der Mönckebergstraße erreicht man in 37 Metern Höhe eine Plattform mit diversen Ausstellungsstücken. Eines davon ist eine "Ehrentafel" für die 14 Angehörigen eines Freikorps, die "bei den Straßenkämpfen am 24. und 25. Juni 1919" umkamen.
Die bei einer Trauerfeier am 15. Juli 1919 enthüllte Gedenktafel befand sich ursprünglich im Kirchenschiff. Worum aber ging es bei den erwähnten Straßenkämpfen?
Die angemahnten Ereignisse wurden lange als Umsturzversuch gedeutet, der durch den Einmarsch der Reichswehr niedergeschlagen wurde. Bei den später sogenannten "Sülze-Unruhen" spielte die Politik jedoch keine entscheidende Rolle. Vielmehr hatte sich der Volkszorn spontan und aus anderen Gründen entladen.
Hunger nach dem Ersten Weltkrieg
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im November 1918 dauerte das Elend fort. Die Mehrzahl der Hamburgerinnen und Hamburger hungerte. Es kam zu Plünderungen. Betroffen waren auch "Symbole bourgeoisen Wohllebens" wie das Hotel Atlantic, der Alsterpavillon und der Ratsweinkeller. Nachdem über Ostern am 20. und 21. April 1919 Polizeiwachen überfallen worden waren, verhängte der 28-jährige Militärkommandant von Groß-Hamburg, der Sozialdemokrat Walther Lamp'l, den Belagerungszustand über Hamburg, Altona und Wandsbek. Er kostete bis zu seinem Ende am 30. April 18 Menschenleben.
Ehrentafel im Kirchturm der Petrikirche (l.). Walther Lamp'l (1891-1933) war der Militär-Kommandant , (c) stahlpress Medie
Zum Einsatz kam dabei eines der Freikorps, die gebildet worden waren, um die revolutionären Umtriebe nach dem Kollaps des Kaiserreichs mit Waffengewalt niederzuschlagen. Lamp'l beauftragte die 600 Männer der "Freiwilligen Wachabteilung Bahrenfeld" damit, "St. Pauli von dem Verbrechergesindel zu säubern" und "die Neustadt einer gründlichen Reinigung" zu unterziehen. Auch bei den Sülze-Unruhen im Juni 1919 kamen die "Bahrenfelder" zum Einsatz.
Der Anlass
Beim Beladen eines Fuhrwerks mit Abfällen aus der Fleischwarenfabrik Heil & Co. in der Kleinen Reichenstraße ging am Morgen des 23. Juni 1919 ein Fass zu Bruch. Aus der ekligen gelben Brühe, die sich auf das Pflaster ergoss, werde wohl die "Heilsche Delicatess- Sülze" hergestellt, hieß es unter den Passanten. Das Gerücht machte die Runde, Heil würde Hunde, Katzen und Ratten zu Sülze verarbeiten. Zufällig kamen zwei Politiker und ein Mitarbeiter der für Lebensmittelpreise zuständigen Stelle vorbei und inspizierten die Firma, in der auch Felle gegerbt und die Bereiche offenbar nicht sauber getrennt wurden. "Hurra, da haben wir ja einen Hundekopf!", rief einer von ihnen aus.
Seit 2015 erinnert ein Wandbild bei der Verbraucherzentrale in der Kirchenallee an die Sülze-Unruhen, (c) stahlpress Medie
Das war das Signal für die Menge auf der Straße, in den Betrieb einzudringen und ihn zu verwüsten. Ein tausendköpfiger Mob schleppte den 66-jährigen Firmenchef Johann Jacob Heil zum Rathausmarkt und warf ihn von der Schleusenbrücke in die Kleine Alster. Polizisten zogen ihn heraus und brachten ihn im Rathaus in Sicherheit. Warnschüsse hielten die Menge davon ab, das Gebäude zu stürmen. Dass ein Kriminalinspektor Heil verhaftete und die "strengste Untersuchung" versprach, beruhigte die Lage vorerst.
Zuspitzung der Unruhen
Doch am nächsten Morgen kochte der Unmut wieder hoch. Arbeiter von Heil und anderen Fleischfabriken wurden in einem Spießrutenlauf auf den Rathausmarkt gezerrt und an eine Art Pranger gestellt. In der Nacht zum 25. Juni wurden Waffengeschäfte ausgeraubt. Militärkommandant Lamp'l verkündete erneut den Belagerungszustand. Das Rathaus wurde umstellt und beschossen, ein Waffenstillstand ausgehandelt und gleich gebrochen. Über die Börse drang ein Mob in das Rathaus ein, zu dessen Schutz die "Bahrenfelder" aufgeboten worden waren.
Die ganze Nacht über feuerten die Belagerer und das Freikorps aufeinander. 14 "Bahrenfelder" starben. "Hamburg glich heute einem Kriegslager, einer vom Getümmel des Krieges erfassten Stadt, in der an die Stelle der friedlichen Arbeit lediglich die Flinten, die Handgranate und die rohe Gewalt getreten sind", schrieb eine Zeitung.
Die Nachwirkungen
Infolge der Ereignisse befahl Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) in Berlin am 27. Juni die "Reichsexekution" über Hamburg. Am 1. Juli begann die Besetzung mit 10.000 Mann unter dem Kommando des für seine Grausamkeit in Deutsch-Ostafrika berüchtigten Generalmajors Paul von Lettow-Vorbeck. Bis zur Aufhebung des Belagerungszustandes am 19. Dezember mit willkürlichen Verhaftungen und mutwilligen Erschießungen waren an die 90 Tote zu beklagen. Bereits im Oktober hatte ein Gericht festgestellt, dass die "Heilsche Delicatess-Sülze" zumindest Maden enthielt, und den Fabrikanten daraufhin zu drei Monaten Gefängnis verurteilt.
Bildergalerie
Zum Vergrößern Bild anklicken.
Autor: Volker Stahl
Fotos: (c) stahlpress Medienbüro
HBZ · 11/2024
Weitere Meldungen:
Archive - das Gedächtnis Hamburgs
Wer sich für Hamburgs Historie interessiert, kann auf nahezu unerschöpfliches Material zurückgreifen, das in städtischen und privaten Archi...
HBZ · 10/2025
Editorial
Liebe Mitglieder des VHSt, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich will man noch "Im Märzen der Bauer" singen und schaut raus und denkt "... und kam die goldene Herbstesze...
HBZ · 10/2025
Unterschätztes Genre?
Laut dem deutschen Duden ist ein Kriminalroman »ein Roman, bei dem ein Verbrechen und seine Aufklärung im Mittelpunkt stehen«....
HBZ · 10/2025
Das Hamburg-Rätsel
Liebe Leserin und lieber Leser, mit unserem Hamburg-Rätsel können Sie testen, wie gut Sie Hamburg kennen....
HBZ · 7/2025
Aufgeblättert: Buchtipp
Ein Hamburg-Führer, der anders ist als seine unzähligen Vorgänger....
HBZ · 7/2025
Geschichten aus Hamburgs Geschichte
Der Paternoster-Aufzug "befördert" freisinnige Hanseaten seit 140 Jahren....
HBZ · 7/2025